DIE LAST DER PROFILE 1

Ulrich Land

Das kennen wahrscheinlich sämtliche Schreiberlinge, die sich mit dem Abfassen von Texten größerer Ausmaße befassen: Segen und Fluch, Enge und Strenge der selbst gemachten Vorgaben. Wer der Agenda des Schreibtischs Hörspiele, Theaterstücke, längere Erzählungen und/oder Romane zumutet, also die »große Form«, der legt Personenprofile und Soziogramme an, schreibt Exposees (wer hasst sie nicht!) und Konzepte, bastelt Listen und Tabellen …

Wenn man sich etwa ums Zusammenstellen von Profilen für die Protagonisten drückt, schießt man unweigerlich ein Eigentor. Was ich regelmäßig zu tun pflege. Indem ich jedes Mal so blöd bin, die Steckbriefe für meine Hörspiel- oder Romanfiguren erst aufzustellen, wenn ich schon mitten im Schreiben stecke, im Inszenieren, Formulieren und Fabulieren. Und dann ist es meistens zu spät. Wenn ich nämlich, was weiß ich, auf der Hälfte der Strecke anfange, die Personen durch eine eigenständige Spreche unterscheidbar zu machen, zieht das einen Riesenrattenschwanz nach sich. Nicht nur, dass man durch »Strg H« einzelne Wörter bei der jeweiligen Figur, und nur bei dieser,durch andere ersetzen muss. Um meinetwegen den Gebrauch des Wortes »blöd« zu regulieren und nur einer bestimmten Romanheldin zu gestatten, und das Wort »voll blöd« einem anderen Vorkämpfer. Man muss über einzelne Wörter hinaus den gesamten Duktus der einzelnen Personen durchstylen: Welche sprachlichen Vorlieben haben sie? Fluchen sie gern, kuschen sie lieber, schleimen sie fleißig, provozieren sie auf Deibel komm raus und komm rein? Benutzen sie antiquierte Formulierungen, befleißigen sie sich der Jugendsprache, pflegen sie zirzenhaftes Liebesgesäusel, quasseln sie in breitestem Balina Dialekt?

So lege ich mir immer wieder viel zu spät Listen von Flüchen, Phrasen, Wörtern an, die ich den einzelnen Heldinnen und Helden ins Maul zu schreiben gedenke. Muss dann aber diese Selbstauflagen mit den verdammten bereits geschriebenen, sagen wir: siebzig Seiten abgleichen. Ein höchst mühseliges Geschäft aus Lesen und Gegenlesen, Durchforsten, Löschen und Korrigieren.

Trotzdem ist aber genau das überlebensnotwendig für den dialoggespickten Roman. Und fürs Hörspiel sowieso. Denn zum einen redet kein Mensch wie der andere, jeder hat seine ureigenste Art, die durchgehalten zu werden verlangt. Und zum andern versetzt vor allem die je unterschiedliche Spreche die Leserinnen und Hörer in die Lage, die quasselnden und streitenden Figuren auseinander – und die Story zusammenhalten zu können.

Wozu eben auch maßgeblich das Soziogramm beiträgt, das man dem Abfassen der Personenprofile tunlichst folgen lassen sollte (das ich allerdings auch viel zu selten anlege). Denn darin zeichnen sich die Beziehungen zumindest der Leitfiguren ab, ihre Verbindungen untereinander, ihre Verwicklungen, ihr Auseinanderdriften. Schließlich sind die Figuren, so eigen sie sein mögen, denn doch untereinander verbandelt. Das gilt selbst für Kafkas passionierte Einzelgänger, auch die leben nicht im luftleeren Raum.

Keine Ahnung, warum ich mich selbst da jedes Mal aufs Neue davor drücke und mit den Profilskizzen erst anfange, wennʾs gar nicht mehr anders geht. Meistens dann, wenn ich selbst nicht mehr durchblicke, wenn ich drohe, den Überblick übers Personal vollends zu verlieren. Jedes Mal nehme ich mir vor, mich im Vorfeld mehr zu disziplinieren. Und jedes Mal, wenn ich dran denke, ist der Füller schon emsig unterwegs, hat die Flucht nach vorn angetreten.

VON DER MÄR, DASS FIGUREN MACHEN, WAS SIE WOLLEN

Dieter Jandt

Volles Verständnis, lieber Uli Land. Mich plagen ähnliche Probleme, wenn es gilt, die Konturen der Charaktere zu schärfen, die sich, womöglich absichtlich, oft erst beim Schreiben profilieren, sich so gesehen selbständig machen, was Autoren und Autorinnen ja immer wieder gerne behaupten, und also wird auch etwas daran sein.

Da würde ich an dieser Stelle gerne von einem Beispiel berichten, wie man solch forschen Figuren das Handwerk legen kann, oder wie man sie am besten wieder loswird.

Ich hatte mal von einem Kriminalschriftsteller gehört, der behauptete, dass man sich Mitspielern im Roman, wenn sie die Handlungabläufe störten, ganz einfach entledigen solle.

Nun saß ich bald darauf an meinem ersten Kriminalroman – »Rubine im Zwielicht« – und hatte eine Figur geschaffen (keinen Hauptdarsteller, aber schon auch wichtig), einen Gemmologen, mit dem ich später nichts mehr anzufangen wusste. Er ließ sich nirgendwo mehr einfügen, er war sperrig, er wurde nicht mehr gebraucht.

Nun macht man ja zumindest mehr oder weniger wichtige Figuren (und dazu gehörte der Gemmologe ja nun doch) »hinten raus« irgendwie »zu«, beziehungsweise deren Schicksal, das heißt, man versucht das Bedürfnis der Lesenden zu befriedigen, die wissen wollen, was aus den Figuren geworden ist.

Dieser Gemmologe trug aber nun mal nicht bis zum Ende des Romans, und ich erinnerte mich an meinen Kollegen. Ich gestehe: Ich schielte nicht allzu lange verstohlen in die Zimmerecke, um nachzudenken, dann ließ ich den Gemmologen schlichtweg »um die Ecke bringen«, so war ich ihn los. Und siehe da: Es funktionierte! Die Handlungsabläufe kamen nicht in gefährliche Schräglagen, zumal ich mir auch während der Arbeiten gerne Auswege offenlasse, Notausgänge, in denen zuvor Unerwartetes passiert. Jedenfalls schien mir diese Lösung eine recht bequeme zu sein, und sie war nicht an den Haaren herbeigezogen, sie fügte sich, wie ich hoffe, nahtlos ein. Was mich zu dem leichten, ja vielleicht leichtsinnig formulierten Satz verleitet: Es gibt also beim Schreiben auch Dinge, die erledigen sich fast von selbst.

Der Begriff Schreibtischtäter beschäftigte mich aber fortan.

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ZEITSPRÜNGE UND BILDERWECHSEL UND VIELES MEHR

Dieter Jandt

Lieber Uli Land, was mich manchmal umtreibt, ist die Frage, wieviel darf ich den Lesenden abverlangen? Wie weit sind sie gegebenenfalls bereit, mir zu folgen, und inwieweit kann ich ihnen entgegenkommen?

Ich arbeite in meinen Romanen, wie du auch, gerne mit Zeitsprüngen, Perspektivwechseln, bevorzuge kleinere Kapitel von 3 bis 8 Seiten, und wechsele dann in die nächste Szene, die möglicherweise eine dokumentarische Passage aus einer anderen Zeit ist oder eine Szene mit einem Ich-Erzähler, der die Handlung aus einer anderen Perspektive betrachtet.

Man kann mit diesen ständigen Wechseln sicherlich die Lesenden verwirren, aber ich liebe es, ein Mosaiksteinchen zum anderen zu fügen, und hoffe, dass beim Lesen ein ähnlicher Effekt entsteht: Dass ein Teilchen ans andere gelegt wird und möglichst haftenbleibt, bis sich alles zum Ganzen fügt, auch im Kopf des Lesenden.

Ich erhoffe mir davon auch eine Steigerung der Spannung, indem man sich fragt: Ja, was ist denn nun mit der Person von Seite 38, und wie war der historische Fortgang der auf Seite 55 begonnenen Passage?

Ein Grund, warum ich so gern diese Erzähltechnik wähle, ist, glaube ich, dass ich mir damit auch ein Stück Freiheit erhalte, was den Fortgang der Geschichte anbelangt. Ich hatte bei meinem neuen Romanprojekt (der Flugzeugabsturz in Remscheid 1988) den Anfang sehr schnell im Kopf, dazu eine grobe Idee, was ich erzählen will; und der Schluss, auf den ich mich sehr freute, stand im Wesentlichen fest, wobei ich mir einen entscheidenden Punkt offenhalten konnte, was für mich noch einmal die Spannung erhöhte. Aber alles andere dazwischen kannte ich selbst noch nicht. Ich habe mich während des Schreibens gewissermaßen hineingewerkelt, neue Facetten gefunden, andere herausgearbeitet und vertieft, und ich glaube, die Wechsel in Perspektive und Zeit erlaubten mir, mehr mit den Figuren, Zeiten und Handlungsabläufen zu spielen.

Man muss sicherlich darauf achten, dass die Lesenden auch möglichst bald nachvollziehen können, in welcher Zeit sie sich gerade befinden oder wer nun mit einem Male erzählt. Möglichst in den ersten Zeilen des jeweiligen Kapitels muss das klar sein, sonst verliert man sich beim Lesen und verliert schlimmstenfalls die Lust an der Lektüre.

Müßig zu erwähnen, dass man den Figuren jeweils einen eigenen Sprachduktus »verpasst«, um die Perspektivwechsel deutlich zu machen. Und: Man kann sicherlich als Schreiber auch jeweils unterschiedliche Schriftformen wählen, aber da ist mir oft das Schriftbild im Buch zu unruhig. Und sicherlich wechselt man, je nach Szene, in eine eher weiche oder ruppige, nüchterne oder zackige Sprache. Gleichwie: Möglichst in den ersten Zeilen des Kapitels klarmachen, wo wir sind und wer erzählt, damit die Lesenden wissen, in welchen Film sie sich jeweils versenken mögen.

BILDERWECHSEL

Ulrich Land

Klar, es gibt ein paar technische Kniffs, die der Leserin wie dem Schreiber beim Kapitel-Hopping von Perspektive zu Perspektive, von Ort zu Ort, von Protagonist zu Protagonistin auf die Sprünge helfen: Man kann die einzelnen Kapitel einfach mit der jeweiligen Jahreszahl benennen und so die Zeitsprünge wieder einfangen – so z. B. in meinem Roman »Dating Tucholsky«. Man kann, wie erwähnt, den einzelnen Perspektiven unterschiedliche Schrifttypen zuordnen (was ich in fast all meinen historischen Romanen mache, typographische Unruhe hin, Unruhe her). So wird der geneigten Leserschaft zumindest schon mal versprochen, dass die Kapitel gleicher Schrift gleiche oder ähnliche Blickwinkel einnehmen. Man kann in einem Glossar verraten, welche Personnage man sich ausgedacht hat, bei jeweils mehr oder weniger ausführlichen Profilen der einzelnen Figuren. All das erleichtert die Zuordnung für die »Außenstehenden«, durchaus aber auch für uns Schreiberlinge. Setzt allerdings voraus, dass das verehrte Publikum bereit ist zu blättern. Vorwärts rückwärts. Ein bisschen Mühe also ist unvermeidlich.

Sei’s drum.

Klar soll Lesen entspannen, unterhalten, einen in andere Welten oder andere Unterwelten eintauchen lassen, aber ein Kinderspiel muss das Lesen, finde ich, nicht sein. Ich bin mal so frei, davon auszugehen, dass die meisten, die noch zum guten alten Buch greifen, auch eine Challenge von uns geboten bekommen wollen. Lyrik lädt zum Metaphernaufbohren ein, Theaterstücke und Hörspiele zum Aufdröseln der Figuren- und Konfliktkonstellationen, und zeitgenössische Romane eben bescheren oft eine Perspektivencollage. Rätselraten allenthalben. Gut so. Denn nur so sind die Lesenden interaktiv und nicht inaktiv mit im Boot. Nicht einfach nur schlucken – wie im mäßigen Unterhaltungsfilmen –, sondern einsteigen, indem man Fäden auseinander- und zusammenfrickelt, knüpft und verknüpft. Vorwärts rückwärts. Und am Ende ist vielleicht denn doch alles ganz anders. Was in der Regel keine bittere Enttäuschung bereithält, sondern eine Überraschung.

Ergo: Perspektivwechsel, Ort- und Zeitsprünge, Stil- und Figurenbrüche: Aber ja, aber bitte! Sind zwar nicht immer ganz einfach zu verknusen, beleben das Geschäft aber ungemein. Eine Zumutung und unsere Verpflichtung geradezu. Nichts, was langweiliger wäre, als ein Text, in dem uns kein Gedankenexperiment zugemutet wird. Man hätte immer das schale Gefühl, es würde einem nicht nur nicht zugemutet, sondern nicht zugetraut!

Denn: Genau das ist ganz normal. Im Denken. Im Leben. Im Alltag. Niemand kommt durch den Tag ohne Irritation, ohne unabgeschlossene Geschichten, ohne unfertige Begegnungen, oder Holperstolpersteine, ohne rasante Figurenwechsel, ohne Unvollendete. Natürlich halten wir uns dabei immer wieder an bleibenden, vor allem geographischen und personellen Konstanten fest: Wir wissen trotz der verrückten Verbrecherhatz in den Einkaufsarkaden unserer Krimistadt immer noch, wo unser real existierender Lieblingsbäcker ist. Obwohl uns diese fantastisch schöne Frau eben an der Bushaltestelle so aus dem Konzept der gewohnten Abläufe gebracht hat, dass wir prompt den Bus verpasst haben. Mindestens. Oft auch mehr, oft auch nachhaltiger. Vielleicht holt uns dann die 20-Uhr-Tagesschau-Zäsur wieder in die Spur.

Jedenfalls: Das Leben ist voller Überraschungen. Man trägt, wie gesagt, immer angerissene, unfertige, brüchige Storys, desolate bis dekonstruierte Narrative mit sich rum.

Und genau das, diese »Lebensstorycollage« bildet, wenn er gelungen ist, der Roman ab, der durch seine Raffinesse die Perspektivwechsel nach Kräften adelt.

Also nur Mut zum Experiment!
Nur Mut zum Lesen von Experimenten!
Kann nicht schaden.

BILDERKLAU DER DRITTE

Dieter Jandt

Nun sehe ich mich doch überführt, was allzu genaue Beschreibungen angeht, womit man den Lesern womöglich ihre eigenen Bilder klaut. Ja überführt, und zwar genau in meinem neuen Roman Das Haus an der Grenze, ein Thailand-Roman, der in ebendiesem Verlag hier erscheinen wird.

Wie gesagt: Es ist ein Thailand-Roman, noch genauer: Ein Roman, der am Goldenen Dreieck spielt, so auch im Südwesten Chinas, in Laos, in Myanmar und vor allem im Norden Thailands. Und da verliert sich die Hauptfigur Lehnert ein uns andere Mal in den dortigen Tempelanlagen mit all ihren bunt verzierten Figuren und Skulpturen und Statuen, mit Wandmalereien und Reliefs, die oftmals das Heldenepos Ramakien darstellen mit all den Fabelgestalten, dickfelligen Affengöttern, eitlen Elefanten und wunderschönen Prinzessinnen, die mit glitzerndem Geschmeide angetan sind und keinesfalls mit nur einem Adjektiv abgetan werden können. Wie soll man also zwischen all diesen Legenden und bunten Gestalten nicht ins Fabulieren kommen? Und wenn die ehemalige Geliebte des Helden in ihrem Nachleben tief unten im Mekong Nagaschlangen und mit Goldrändern gezackten Drachen begegnet, die sie an die Oberfläche hieven, so geht das nicht mit einer kümmerlichen Beschreibung einer lehmigen Brühe, die sich als Grenzfluss zwischen Laos und Thailand schlängelt, sondern dann ist das ein mächtiger, mitreißender Strom, mindestens, der über Aber- und Abertausende von Quadratkilometern die Landschaften befruchtet, dominiert und drangsaliert, in dem bräsige Wasserbüffel sich vor der sengenden Hitze kühlen, Frauen am Ufer Gold sieben, steinalte Fischer ihre dünnen Netze auswerfen und Unvorsichige, die sich zu weit vorgewagt haben, fortgespült werden.

Ja, da hat es mich geritten, hat mich die Nagaschlange geritten, und da reicht nicht die Bezeichnung riesige Schlange mit gewellter Zunge, da muss und will man sehr wohl fabulieren und auch herumspinnen und sich in einen gewissen Rausch schreiben, der in etwa so beim erstmaligen Betrachten der exotischen Bilder und bei der Aufnahme völlig ungewohnter Eindrücke über mich kam, beim Essen, im Straßenverkehr, in den Markthallen, den Tempelanlagen und im Alltag am Goldenen Dreieck. Das funktioniert nicht ohne Ausschmückungen, nicht ohne Wortmalereien, wenigstens versuchte.

Und wer weiß, vielleicht, lieber Uli Land, hast du ja recht: Wenn man als Schreiber einen heimischen Birnbaum aufs Korn nimmt, kann man womöglich auch Details entdecken, die uns und die Leser mit auf die Reise nehmen, und wenn es gefräßige Würmer sind, die sich schmatzend durch Fruchtfleisch wühlen oder sich womöglich an den Kernen verschlucken oder, wenn sie kein Ende finden, zu riesigen Nagaschlangen mit güldenen Kronen werden.

Dennoch bin ich weiterhin dafür, bei allem Fabulierwillen das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren: die Leiche im Keller oder sonst wo. Und da müssen auf dem Weg dorthin die Birne und der Wurm und überhaupt der Garten dann auch mal ein schlichter Garten bleiben. Denn die Leiche könnte ja noch leben und möchte nur zu gerne möglichst bald gerettet werden, bevor alles »zerschrieben« ist. Die Leiche würde es uns danken.

In diesem Sinne,
Dieter Jandt

DER SCHREIBRAUSCH

Ulrich Land

Okay, lieber Dieter Jandt, begraben wir an dieser Stelle das Autorenkriegsbeil. Einstweilen. Wer weiß, vielleicht kommen wir ja noch mal drauf zurück. Ich jedenfalls bin verdammt gespannt auf deine Sprachschwelgerei beim Beschreiben dieser faszinierenden anderen Welt im Goldenen Dreieck, von dessen Existenz ich ohne dein Dazutun gar nichts wüsste. Und da ist dann der Geograph in mir mit seinem (notwendigerweise immer) verengten Blickwinkel ertappt. Und aufgerufen. Aufgerufen, sich von den Bildern des Geschriebenen einladen und beeindrucken zu lassen.

Woran ich bei deiner Beschreibung deiner Lust an der Beschreibung allerdings hängen geblieben bin, ist deine Einlassung, man würde sich dabei »in einen gewissen Rausch schreiben«. Das hört sich nach Drogen an.

Nun gehöre ich nicht zu den Autoren, die behaupten oder versuchen, glaubhaft zu machen, oder tatsächlich wissen, dass sie nur schreiben oder losschreiben können, wenn sie unter Alkohol stehen oder auf Pille sind oder sich ein süßlich schmauchendes Pfeifchen reingezogen oder sich mit sonst was für Aggregaten unter Strom gesetzt haben. Und so hab ich deinen Halbsatz natürlich auch nicht verstanden. Nee, mag langweilig klingen, aber ich bin komplett nüchtern, wenn ich schreibe. Jedenfalls wenn ich anfange zu schreiben. Kann aber durchaus sein, dass ich im weiteren Fortgang der Schreiberei geradezu beschwipst bin vom Tintenfluss, vom Schreibflow, von meinen eigenen Hirngespinsten. Und das, ohne irgendwas zu schmauchen, ohne jeden Tropfen und ohne auch sonst irgendeinen Geist aus irgendeiner Bottle. Außer dem einen, den meine Fantasie aus der Flasche lässt.

Das Fiktionale – also ausgedachte Texte – schreiben, hat mitunter tatsächlich irgendwas Rauschhaftes an sich. Und bei mir – als Vollblut-Hörspielfreak – sind es insbesondere Dialoge, die mir wie des Wahnsinns fette Beute aus der Feder fließen. Dialoge, deren Beteiligte ich zwar kenne, nicht aber den weiteren Verlauf und schon gar nicht das Ende. Dialoge insbesondere, wo sich irgendeine Gemeinheit zwischen den Akteuren anbahnt oder abspielt, wo sich eine echte Sauerei andeutet, wo irgendwas voll aus dem Ruder läuft.

Es sind also weniger Beschreibungen und Schilderungen, die mich »besoffen« machen, als das Hin und Her der Boshaftigkeiten, das knallharte Aufeinandertreffen von Protagonist und Antagonistin. Der Streit. Oder grad im Gegenteil die Sequenzen, wo Antagonist und Protagonistin in die Kiste springen. Wenn ich mir erotische Szenen ausdenke und zu Papier bringe, dann geht’s mächtig ab mit dem Tintenfluss. Dass er sich verselbständigt, wäre zu viel gesagt – die Federführung ist und bleibt beim Autor, nicht bei seinen Figuren –, aber der Schreibfluss beschleunigt sich mächtig, wird zum Wasserfall. Die Sprachbilder laufen schnell und schneller, das Schreiben wird zum Hinterhereilen, zum rasend schnellen Aufschreiben des elektrisierten Fantasiegetümmels, zum Festhalten der davonpreschenden Gedankenblitze. Dieser Schwung hat tatsächlich was Orgiastisches. Wo der Füller kaum mitkommt. Wo das Schreiben merkwürdig wenig Mühe macht. Sondern ein Riesenvergnügen ist. Sex and crime: die alte, die immer wieder neue Geschichte.

Schade eigentlich, dass Bücher nicht nur aus Entzweiungen und Vereinigungen bestehen. Schade, und gut so.

NOCH EINMAL IN SACHEN SCHREIBGERÄTE

Ulrich Land

Apropos Missverständnis: Auch ich bin kein Maschinenstürmer, kein bisschen. Aber ich bin – ein Blick aufs Geburtsdatum verrät’s – ein Digitalimmigrant. Wie übrigens Adrian Zschokke es auch war. Für mich jedenfalls ist der Computer eine bessere, eine hervorragende Schreibmaschine. (Mit solchen Annehmlichkeiten wie unkompliziertem Korrekturkomfort, unermüdlicher Copy-and-Paste-Funktion, virtuoser Volltextsuche.) Und es hat mir über die Jahre reichlich Staunen abgerungen, dass das Ding auch Bilder das Laufen lehren kann, O-Töne »zurechtschnibbeln«, Nachrichten in die Welt hinausjagen und was es nicht alles kann. Und trotzdem nehme ich immer noch gern eine Zeitung aus Papier zur Hand. Und schneide sogar hin und wieder noch Artikel aus. Gradezu rührend. Alte Gewohnheiten sind unglaublich hartnäckig.

Was aber der Computer nicht kann, ist, sich komplett was ausdenken. Aus dem (mehr oder weniger) Nichts. Jedenfalls noch nicht. Vielleicht kriegt er’s noch hin, mit viel künstlicher Intelligenz und nachdem man ihn fleißig mit Setting und Ingredienzien, mit Personenprofilen und Plotpoints gefüttert hat, sich einen platten Plot aus den Fingern zu saugen, eine Story an den Haaren herbeizuziehen. Aber nicht aus der hohlen Hand – es wird keine Schöpfung ohne Vorgaben. Wobei ich mir klar darüber bin, dass auch wir Menschschreiber und Menschschreiberinnen keine unbeschriebenen Blätter sind, sondern mit einer Fülle von bewussten und unbewussten Vorgaben aufwachsen, die Zeichen der Zeit inhalieren, Tausende Begegnungen mit irgendwas und irgendwem mit uns rumtragen, im Background. Und also auch aufs Papier bringen, bewusst und unbewusst. Keine Illusion, kein bisschen!

Aber der Computer, wie wir ihn bis jetzt kennen, hat eben weder Haare noch Finger noch Hände, an denen er ziehen und saugen oder aus denen er schöpfen könnte. Ich glaube nicht, dass der Computer eine Seele hat. Auch wenn’s manchmal so aussieht, spätestens beim nächsten derben Absturz. (Klopf, klopf, klopf ans Gehäuse, plus Streicheleinheit für den Monitor, die frisch defragmentierte Festplatte, die ferne und doch so nahe Cloud!) Und auch wenn ich keineswegs abstreiten möchte, dass das Schreibgerät sich auf den Text selbst auswirkt. Mehr, als einem vielleicht lieb ist. Sonst hätten wir diese ganze Debatte hier nicht führen müssen.

Aber egal, ob in Stein gemeißelt, mit der Feder aufs Papier gekratzt oder in die Tastatur geklimpert, entscheidend ist und bleibt nun mal, was hinten rauskommt. Und da lass ich mich, bislang zum Gegenteil nicht bekehrt und belehrt, am liebsten, am allerliebsten auf die Wege und Abwege meiner mäandrierenden Tintenflüsse ein. Mit dicken fetten Willkommensküssen für die Musenküsse.

Und lieber Kollege, lieber Fabian Schaefer, wie halten Sie’s mit den Schreibgeräten?

Fabian Schaefer

Lieber Ulrich Land

Endlich nun, gegen Ende dieses Jahres, meine Weiterführung, mein Aufschlag in unserem Wechselspiel …

Also, Schreibgeräte … der Kopf, aus dem Ideen herauskommen, wenn es ihnen gefällt, dann schnell ein Zettel, mit dem Kugelschreiber, oder dem Bleistift aus dem letzten Hotel (Füller drücke ich, quäle ich zu sehr); oder eine elektronische Notiz (lies: ein E-Mail an mich selbst). Dann die Ideen auswählen … für mich ist die Story Line wichtig, ein Excel-Sheet, ja, ganz prosaisch, Handwerkszeug. Der Computer, na klar … Goethe und Dante und Homer – in ihrer Zeit so fortschrittlich – hätten ihn benutzt, ganz klar, wenn sie ihn gehabt hätten! Und es schreibt sich nach diesem Fluss der Geschichtslinie… doch immer, immer werden Ideen eingeflochten, der Fluss springt von einer zur anderen, sie sind sein Ziel immer wieder. Das sind die Zettel oben, vorher, oder doch kommt da etwas spontan, ganz unaufgefordert, ergibt sich aus dem Geflecht, noch eine Windung. Toccata und Fuge – bestimmte Struktur, um die dann die Jazz-Variationen und andere Ausflüge kommen. Schreibgeräte: Schreibprozess, der um den Computer tanzt, Zettel, Zeitungsausschnitte, Worte zu Abläufen, die sich – wie jetzt – im Schreiben erst bilden. Schreibgeräte: Der Gedanke, wann auch immer – schön, wenn er gar nicht passt, ich ihn aber im Text haben will, dennoch, oder gerade deshalb? – auch nachts der Traum, muss in den Text – oder, manchmal, entsteht er sogar aus der Schreibarbeit, dem dichten Sich-befassen. Schreibgeräte, nützliche Hilfe, aber auch, den Text fördernd, beeinflussend, fördernd, ja, bildend?

Bild: Schreibgeräte (jetzt gerade)

Womit ich uns, lieber Ulrich Land, »ganz sanft« oder mit roher Gewalt, in Richtung Inspirationen zu bewegen versucht habe … (Vielleicht auch als Vorschlag zu verstehen): Wollen Sie mir da folgen, wollen wir nun über Ideen, Einfälle, Stimmungen sprechen, und, was wir daraus so machen, wenn wir schreiben, und vielleicht auch über das Spielerische beim Texten?

IN SACHEN COMPUTERKUSS UND MUSENCODE

Ulrich Land

Aufschlussreich, wie extrem unterschiedlich zwei Schreiber der gleichen Generation auf die neuzeitlichen Angebote an Schreibhandwerksvereinfachungstools reagieren. Obwohl wir doch beide »Digitalimmigrants« sind. Obwohl wir doch beide immer wieder mit Technik im beruflichen Alltag konfrontiert sind: Adrian Zschokke als Filmer und Filmemacher und ich als Radiomacher – Aufnahmeequipment und Laptop sind unser täglich Brot für den Broterwerb. Obwohl: Was heißt hier Brot? Wenn ihr den letzten Digital-Pen abgenagt, die letzte Datei aus dem Drucker genudelt, die letzte Maus geschlachtet, die letzte Tintenpatrone leergeschlürft habt – werdet ihr erst dann einsehen, dass ihr euern Laptop nicht essen könnt? Um den Rechthaber rauszukehren, der schon immer der eigentliche Cree-Weissager gewesen ist.

Also in Maßen technophil und in Unmaßen esophil, musengläubig, auch, ja. D’accord. Trotzdem: Ich käme nie auf die Idee, einen »Kerneindruck«, die inspirierende Gipfelreihe der Hohen Tatra, die schwätzenden Greise auf der Kaimauer in Savonlinna, die geigenden Saufkumpane in einem Dubliner Singing Pub, die Hexen auf dem Blocksberg – was oder wie auch immer mit der Handyknipse einzufangen, abzuspeichern. Fotografieren ja, für die Erinnerungs-, nicht aber für die Wörtergalerie.

Da würde ich immer denken: Wenn der »Kerneindruck« rasend schnell vorbeigefitscht ist, aber trotzdem den Weg zwischen die Buchdeckel oder ins Hörspielstudio finden soll, dann wird er mir schon wieder einfallen. Sobald ich ein Plätzchen auf der gegenüberliegenden Bank, auf dem Felsknubbel nebendran gefunden hab, um nicht bloß zu wischen, sondern einen Wisch mit dem Füller zu füllen, irgendein Karteikärtchen vollzukritzeln, um in der nächsten Wirtschaft meine Zettelwirtschaft auszubauen. Und wenn nicht, dann war erʼs wohl nicht »wert, so festgehalten zu werden.« Ein Monogramm in den Hintern beiß ich mir allerdings jedes Mal, »wenn der Computer eine Datei einfach verschwinden lässt.« Nein, dem Sausack gesteh ich zwar eine Seele zu (mindestens die seiner Konstrukteure, wenn nicht gar… aber lassen wir das), auf keinen Fall aber eine göttliche Schicksalshaftigkeit. Schlichte Eins-Null-Reihen haben nicht darüber zu verfügen, was von unserm Geschreibsel das Recht hat, über den Tag, den Augenblick hinaus aufgehoben zu werden. Sicher, auch den Hass gegen solche Fallouts kann man Faulheit nennen: Ich sehe es einfach nicht ein, dass ich noch mal die gleiche Chose von vorne … Selbsterklärend, oder? Wie ein gutes Schreibprogramm.

Wenn aber ein Schreibprogramm zur Schreibprogrammatik wird, wenn dieser künstlich intelligente Bestseller-Code-Blink recht hat, will ich keinen Bestseller schreiben. Wenn ich ehrlich bin, natürlich doch, aber natürlich anders, natürlich viel besser, natürlich eigenständig… »Ein zuverlässiger Bestseller-Algorithmus« würde mir den Rhythmus versauen, behaupte ich mit stolzgeschwellter Brust, würde mich achtkantig rauskicken aus dem schreibenden Gewerbe. Ein Nonsens, ein Bullshit. Hält nicht mal her als Kriterienkatalog für die Verleger und Verlegerinnen, die rote Karte zu zücken und uns Schreiberleuten entgegenzustrecken – da bin ich ganz bei Adrian und seinem ironischen Biss. Diese fünf, sechs »Blink-Gebote«, geh ich verschärft von aus, beherzigen die Fitzeks und Schätzings dieser Welt mitnichten.

Auch die gieren nach den Assen im weiten Ärmel oder im Ausschnitt der Musenbusen. Hundertpro! Wobei ich die Musenküsse, (fast) ehrlich gesagt, hasse. Die Biester kommen dermaßen erratisch, immer im falschen Augenblick, immer knapp daneben, also auch vorbei, unangemeldet auf Schlingerkurs durch die Gegend, durch meine Magengegend mäandrierend. Blitze aus heiterem Himmel, dass ich nie vernünftig (und unvernünftig auch nicht) gewappnet bin. Einfach kein Verlass drauf.

Ergo: Warum eigentlich nicht die Handykamera bemühen? Um zum Beispiel den nächsten Musenbusenkuss zu knipsen. Warum um diesen heißen Technikbrei herum diesen Regenbogen machen?

Weil man sich was Bessres dünkt? Und selbst wenn man das grade mal nicht tut, mit dem blassen Understatement doch nichts als eine Strategie des Compliment-Fishings verfolgt. Jeder will der Beste sein, mit und ohne Bestseller-Evangelium, Musenküsse, neuestes Thesaurus-Update. Geb ich ja zu. Und weiß die Evolutionsbiologie auf meiner Seite, die da sagt, dass es bei allem, was wir Männer so treiben, eigentlich, recht eigentlich immer nur um das eine geht: Wer darf an die meisten, besten, schönsten Weibchen ran? Wer setzt sich durch mit seinem Genpool? Arbeit (hat das nicht schon olle Freud gesagt?) ist verdrängte Sexualenergie. Umso mehr die Schreiberei. Und ist das ein Vergehen? Kann denn Liebe Sünde sein?

Adrian Zschokke

Da hat sich ein kleines Missverständnis eingeschlichen.

War zwei Wochen unterwegs im Balkan. Kosovo, Montenegro, Nord-Mazedonien, (was für ein lächerlicher Name, den die Griechen da durchgeboxt haben, aber der Nationalismus in den  besuchten Gebieten ist ohnehin kaum zu überbieten. Angesichts der hymnischen Verehrung unserer Nazi (so nennen wir die Nationalmannschaft), wenn sie gewinnt, und ihrer Verdammung wegen fehlendes »Tellentums«, wenn die Gladiatoren verlieren, ist die Schweiz zwar auch nicht verschont davon. Das musste einfach raus. Das Missverständnis jedoch ist ein anderes: Ich wäre durchaus bereit, mit Notizblock und Bleistift, – um auch diesem seinen gebührenden Platz einzuräumen –, Gedankenblitze festzuhalten, hab’s auf obiger Reise mal wieder versucht, denn mit Kamera und Stativ mag ich den Schlapptop nicht mitschleppen, obschon für die Neuen, Federleichten dieser Kalauer kaum mehr angebracht ist, ein Moleskine Notizbuch – zum Füller muss es schon so etwas sein – wiegt auch bald so viel. Item, wir redeten mit vielen mehrsprachigen Albanern. Ich wollte mir die Füllwörter notieren, die ihnen häufig in ihre sonst ausgezeichneten Antworten einflossen. So etwa »eigentlich« oder »quasi«, das einer von ihnen oft leicht verquer in seine Sätze einfügte. Und ich notierte diese Manierismen. Bei der Rückreise ist es mir mein Zettel irgendwo abhandengekommen, und nun versuche ich mich verzweifelt daran zu erinnern, denn eine meiner Figuren sollte so sprechen. Die ganz knapp danebenliegende »Wortverwendung« und auch andere kleine Ausreißer in seinem Deutsch kann ich vorläufig nicht mehr rekonstruieren.

Damit zum Missverständnis. Ich fotografiere nicht den Gedankenblitz, wüsste auch nicht wie, Hirnscanner gibt’s noch nicht mal im I-Phone, auch nicht bei der chinesischen Konkurrenz. Ich versuche Anspielungen zu erfassen, Allusionen, um meiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Würde nie die verknoteten Hände der Oma aus dem letzten Beispiel (Während ich über Tränen brüte, knotet die Oma gegenüber ihre Hände.) fotografieren, denn die Wortfindungen sollen immun gegen bildnerische Darstellung sein, sie sollen Bilder evozieren. So viel zur Klärung.

Dann ein Einwand gegen die Eins zu-null-Reduktion der hilfreichen Rechner. Eins zu null – das gilt heute bloß noch bei Fußballresultaten. Im richtigen – computergenerierten – Leben  😉 sind wir schon bald bei den Quanten-Computern angelangt, wo ein Qbit jede mögliche Position zwischen Eins und Null einnehmen kann. Aber selbst ohne diese: Habe eben ein spannendes Buch gelesen »Die Kunst der Zukunft«: https://www.suhrkamp.de/buch/hanno-rauterberg-die-kunst-der-zukunft-t-9783518127759.

Ohne Zusammenfassung (Es lohnt ich, die 200 Seiten vollständig selbst zu lesen!) kann ich so viel sagen: Auf jedem Gebiet, auf dem die Kreativitätler oder Selbstlerninstruktorinnen forschen, machen die Algorithmen unglaubliche und unerwartete Fortschritte. So gabʼs ein Konzert mit Chorälen von Bach, bei dem das Publikum anschließend beurteilen sollte, welche vom Großmeister selbst stammten und welche vom »Bachorismus«. Niemand konnte es. Nun werden Skeptiker einwenden, Bach sei ohnehin ein sehr mathematischer und formalistischer Komponist. Aber dasselbe Szenario wiederholte sich mit Strawinski. Bei Bildern ebenso; kein Kunstexperte vermag mehr einen wahren Rembrandt von dem computergenerierten Portrait des Algorithmus »the next Rembrandt« zu unterscheiden.

Das konnte ich mit eigenen Augen »überprüfen«: Zurück aus dem Balkan fuhren wir nach Venedig. Wir schlossen uns einer Führung nach San Giorgio an, wo die Benediktiner Abtei wunderbar restauriert worden ist. Da gibt es in der Bibliothek ein Gemälde von Veronese, 7 mal 10 Meter, ein Riesenschinken: »Die Hochzeit von Kanaan«. Wer sich nahe genug davor stellt, sieht die Struktur der Pinselstriche, die Textur der Leinwand, obwohl das alles »bloß« eine 3D-Reproduktion ist, weil Napoleon, als er Venedig einnahm, das Bildchen mit nach Frankreich nahm, wo es heute im Louvre zu besichtigen ist. Gleichwohl sagen Experten, dass die Reproduktion in San Giorgio »echter« sei, weil sie neben der perfekten Wiedergabe auch am originalen Ort hängt.

Nun haben sich die Kreatorinnen der künstlichen Intelligenz auch der Literatur angenommen. Bereits kann man seine Texte zu Essays von beispielweise Dylan Thomas oder Joyce umwandeln lassen. Habe es noch nicht ausprobiert, aber wartet nur, bald 😉.

Was mich im Übrigen nicht traurig macht, auch nicht verzweifeln lässt. Ich bin nach wie vor der Ansicht: Was ich schreibe, meine Intuition, was immer mich in den Fingerspitzen kitzelt, mich aus dem Schlaf  an den Computer ruft, es ist nicht mein Verdienst.  Joan Hartfield sagte: »Der kleine Kopf (des Künstlers) produziert nicht den Inhalt seiner Schöpfungen, sondern verarbeitet wie ein Wurstkessel das Weltbild seines Publikums.« Ich meine mit Schönberg: Kunst kommt von müssen. Sie ist da, und wenn sie mich ruft, dann merke ich auf.

Es ist nicht meine verzweifelte Suche nach Anerkennung, nach dem schönsten Weibchen (das habe ich Freud noch nicht mal mit notgeilen sechzehn Jahren abgenommen). Es ist auch nicht meiner Disziplin geschuldet, so gerne ich das als aufrechter Protestant behaupten möchte. Es ist eine Mischung aus Lauern, Dahindämmern, aus Beten vielleicht oder Meditation. Und wenn der Musenkuss dann kommt, dann nehm ich ihn gerne an, gerade auch, wenn er etwas daneben erscheint. Damit kann ich arbeiten, daran feile ich. Wie mir mal ein erfahrener Kameramann gesagt hat: »Wenn du eine gute Einstellung gefunden hast, musst du nochmal ganz leicht ans Stativ kicken, dann gelingt dir – vielleicht – das perfekte Bild.«

UND IMMER WIEDER DER FÜLLER – IN SACHEN SCHREIBGERÄTE NOCH MAL

Ulrich Land

Noch mal eine kleine Laudatio auf den guten alten Füller: Ich behaupte steif und fest: Tatsächlich fließen die Tintenflüsse anders und geschmeidiger als noch das flüssigste Geklimpergeklapper auf der Tastatur. Es ist wirklich anders. Ich brauche, wenn ich fiktional vor mich hin schreibe, also auf Erfindung aus bin (nicht auf Konstruktion wie bei meinen Radiofeatures), immer zwei Stühle. Auf dem einen den Allerwertesten, auf dem andern die Quanten geparkt. Das Klemmbrett mit Papier (karierte DIN A4-Ringbucheinlagen, wie gesagt) auf den angewinkelten Knien, den Füller im Anschlag. Um mich rum ein unsichtbarer Kokon aus Luft und Fantasie (wenn ich so pathetisch ausnahmsweise mal sein darf). Und die Worte – noch mal pathetisch – gleiten aufs Papier. Nie so flüssig wie in dieser Konstellation, Installation. Doch! Noch flüssig-geschmeidig-gleitender geht’s im Zug. Das ist echt der Gipfel (vgl. auch die »Nachgefragt«-Rubrik auf der KaMeRu-Seite): Wenn ich auf dem Abteilsitz hocke, die Landschaft rauscht vorbei, das Handy hüllt sich in Schweigen, der Laptop hockt zugeklappt im Rucksack – was will mir da einer?! Keinereiner, da hat nur der Füller sein Recht. Und zwar zu Recht. Können die Leute nebendran quasseln, wie und was sie wollen.

Also: Ich hänge am Füller nicht aus rückwärtsgewandtem Traditionalismus und nicht aus affigem Standesdünkel, sondern einfach weil es ihn gibt. Und weil er weiß, wie man Tinte bändigen und fließen lassen kann, der alte Kleckser.

Der Computer ist ein Segen.

Und er hat eine Seele. Obwohl nie grantig, extrem geduldig, macht er doch mitunter, was er will. Er lässt sich feiertags zu nachtschlafender Zeit aufwecken, ohne zu meckern, hat aber einen Heidenspaß daran, wenn er Textschnipsel aus einem Dokument in ein anderes zu tragen hat, dabei die Formatierungen aber so was von zu »versemmeln«. Aus (mir jedenfalls) unerfindlichen Gründen. Schleppt Schrifttypen ein, die ich vorher gar nicht kannte. Oder löscht wahllos hier und da Leerzeichen, wenn ich irgendeine Textdatei durch die Gegend gemailt hab und sie wieder in meinen Rechner zurückflattern. Für diese Eigenwilligkeit schätze ich ihn. Für das stets und ständig und unverdrossen geschwungene Damoklesschwert des Absturzes, das er überm Schreibtisch kreisen lässt, klar, dafür hasse ich ihn. Wer nicht. Da bin ich vier-, fünfmal gebranntes Kind. Hatte ich keineswegs fertig, da hat er mich fertig gemacht, der Drecksack von einem Datenklauber. Ich weiß, ich sollte nicht zu laut zetern. Dreimal auf Holz klopfen, der Kiste über die Stirn streicheln. Wird gemacht. Und weitergetippt, als wär nichts gewesen.

Ein Segen jedenfalls, dass er an Tagen wie diesen so brav und widerspruchslos als Bastelgerät bereitsteht. Was mir besonders als Radiomacher das Leben – gegenüber Schreibmaschine, Durchschlagpapier, Tipp-Ex-Streifen, Schere, Kleber – extrem erleichtert. Mausklick, rapp zapp, gecopyt, gepastet, deletet. Kreuz und quer, über die Tellerränder der verschiedensten Dateien hinweg. Und kein Schwein sieht’s nachher. (Abgesehn von – siehe oben…)

Ein Segen freilich auch im literarischen Getümmel. Denn, versteht sich, das kenn ich auch, dass der PC wie von allein die grade erst vollgetextete Seite, die frisch verzapften Sätze, souverän fix getippten Wörter hauschnau zerkleinert, zersplittert, die schönsten Silbengirlanden zerfetzt, in Wohlgefallen auflöst. Um die Chose an anderer Stelle in anderen Kontexten wieder und neu zu platzieren. Irgendwie. Da vergesse ich manchmal, welchen Mausbefehl ich eigentlich gegeben hab. Da ist der Computer ein absoluter, ein unerreichter Meister seines Faches. Wenn es darum geht, Buchstabenturmtrümmer zu händeln, da ist der Guteste virtuoser als ich. Neidlos anerkannt. Möchte ich nicht missen. Könnte ich gar nicht. Nicht mehr.

Aber wenn’s ums Erfinden von Geschichten geht, ums Fantasieren und Fabulieren, nee, da hat das Ding bei mir nichts zu melden.

Erst in zweiter Instanz. Das Abtippen ist dann schon ein Korrektiv. Und bei allen weiteren Verbesserungsphasen ist der Rechner unhinterfragt und über jeden Zweifel erhaben der Champion. Aber erst dann. Beim Erstinken und Erlügen, beim Ausdenken und Ausmalen bin ich mit meinem Füller und mir allein. Und genieße genau das. Meine Romantik des Schreibens. Das heißt natürlich überhaupt nicht, kein bisschen nicht, dass das, was dabei rauskommt, schon fertig hat, geschweige denn genial-groß-geworfen wäre. Frag meinen PC, der kann da ’n Lied von singen.

Adrian Zschokke

Dieses Hohelied auf den Füller ist berührend. Kaufte mir sofort einen neuen… um gleich auf meine Gegenposition zurückzufallen. Das Wohlgefühl, das sich nach einer Weile einstellte, als ich noch mit Tinte schreiben konnte/musste, wollte und wollte nicht kommen.  Obschon ich mich an die Schreiblektionen in unserer Schule erinnerte und die entsprechenden Lockerungsübungen machte, der Krampf stellte sich vorher ein. Und das Gekritzel war einmal mehr unleserlich.

Ich war aber nicht ganz ehrlich bezüglich meiner guten Einfälle, die ich leichtfertig verblassen lasse, wenn ich nicht zu meinem Computer komme. Ich versuche ein Bild zu machen, bevor alles in Vergessenheit gerät. Heute hat man ja dank Handy immer eine Kamera dabei. Während ich also im Zug über Trauer nachdenke – mein Held musste eben seine Katze einschläfern -, fällt mir der Satz zu: »Während ich über Tränen brüte, knotet die Oma gegenüber ihre Hände.«,den ich am Computer noch bearbeiten will.  Also, was tun? Ich schaue aus dem Fenster. Draußen klatschen aus dem trostlosen Grau immer mal wieder ein paar verlorene Tropfen auf die Scheibe. Die knipse ich, in mehreren Varianten, traue darauf, dass die Anspielung sich in meinem Hirn festsetzt. Und wie man sieht, ist mir der Satz nicht abhandengekommen.

Ich bin wohl einfach technophil. Und, ich gebe es zu, auch immer etwas esophil, musengläubig. Wenn mir doch etwas verlorengeht, sei es, weil ich es nicht mit dem Handy oder sonst einer obskuren Technik fixiert habe, dann – schließe ich, dass es nicht wert war, so festgehalten zu werden, besonders auch, wenn der Computer eine Datei einfach verschwinden lässt.

Denn das hat tatsächlich etwas Mystisches. Im Shintoismus haben nicht bloß Menschen oder Tiere, sondern alle Dinge ihre Seele. Das gefällt mir, überzeugt mich. Und diese Maschinenseele zwingt uns zur Neuschöpfung. So empfinde ich – nach nachhaltigem und wildem Fluchen, selbstverständlich – meine Aufgabe, einen Geistesblitz neu zu formulieren anstatt stundenlang in unergründlichen Datenstapeln von Word, oder gar noch tiefer im Betriebssystem, zu suchen. Man kann das Faulheit nennen. Oder auch nicht.

Von Rossini, dem Musiker und Gourmand weiß man, dass er manchmal im Bett komponierte. Wenn ihm eine Manuskriptseite herunterfiel, so stieg er nicht aus dem Bett, – seine berühmte Leibesfülle stand ihm auch im Weg. Er schrieb die Passage einfach neu. Und das tat seinen Meisterwerken wahrlich keinen Abbruch.

Und da auch wir nur Meisterwerke oder – wenigstens – Bestseller schaffen wollen, habe ich mir  »Der Bestseller-Code« von Jodie Archer und Matthew L. Jockers

heruntergeladen. Natürlich auf Blinkist, der App, in der auch der alte Plato auf ein 14-minütiges Häppchen zusammengefasst wird. Ich will ja schließlich so schnell wie möglich berühmt und meisterhaft werden.

In diesem Blink lernt man, wie man zu mit 97%-iger Sicherheit den nächsten Renner schreibt 😉. Dass die beiden Autoren das bislang ex post feststellten, ist vielleicht eine kleine Minderung ihrer Glaubwürdigkeit, aber ich will doch diese Rezepte, die sie dank KI herausgefunden haben, niemandem vorenthalten.

Wir merken uns: Intensive emotionale Spannungsbögen sind ein Schlüsselelement eines Bestsellers.

Wir merken uns: Wer einen Bestseller schreiben will, soll ausgefallene Formulierungen vermeiden und einen einfachen Sprachstil wählen.

Wir merken uns: Weibliche Autoren haben punkto Stil mehr Erfolgschancen, weil sie eine klare Sprache bevorzugen. (Sorry, das hilft uns beiden nun wirklich nicht weiter 😉)

Starke Figuren sind stark – besonders wenn sie im Titel schon vorkommen.

Interessante Themen sind die allerwichtigste Zutat für einen Erfolg – und das allerwichtigste Thema ist Verbrechen.

Schließlich: Für Verleger ist es schwierig, einen Bestseller vorherzusagen, besonders, weil literarische Qualität nicht ausschlaggebend ist.

Aber: Ein zuverlässiger Bestseller-Algorithmus könnte die Zukunft der Verlage sichern. Nun, da bin ich ja beruhigt.

Wir wissen nun also, dass wir nur den zuverlässigen Algorithmus finden müssen, und schon klappts mit dem nächsten Bestseller. Diese Bestsellertechnik-Suche gibt’s wohl schon seit Urzeiten. Ich vermute, dass schon der griechische Tragiker Adabeisis geflucht hat, weil ihm ständig Aischylos vor dem Licht stand und viel dafür gegeben hätte, eine solch patente Methode anzuwenden. Weil er sie nicht kannte, wissen wir heute halt nichts von ihm.

Aber, und hier kommt meine Musengläubigkeit wieder zum Zug: Ob nun die Musen Kalliope oder Melopomene oder eine andere gerade Dienst haben, sie lassen sich von künstlicher Intelligenz nicht so einfach schlagen und haben immer noch ein As im weiten Ärmel, dass sie nach ihrem Gutdünken dem richtigen, dem wahren Sucher zustecken.

IN SACHEN KERNEINDRÜCKE UND TREAMENT

Ulrich LAND

Ja. Definitiv. Ohne Kerneindrücke geht es nicht. Nie und nimmer nicht. Die Schreiberei entsteht nicht aus dem luftleeren Raum. Auch die von Arno Schmidt nicht. Auch wennʼs in seinem Fall nicht so offensichtlich ist. Aber vielleicht sind wir ja genau deshalb in den Jahrzehnten nach ihm wieder gewaltig hinter ihn zurückgefallen. Haben wieder angefangen, mehr und erkennbarer zu erzählen. Haben versucht, das Experimentelle mit dem Realen zu verbinden. Es geht uns – jedenfalls der größten Zahl zeitgenössischer Schreiberlinge, behaupte ich mal – wieder um Geschichten. Auch der durchaus nervige Boom des Wortes »Narrativ« in allen Lebenslagen spricht diesbezüglich Bände. Der reine Stream of Consciousness hat offensichtlich ausgedient. Ist uns zu langweilig, zu anstrengend. Die reine Abstraktion, die reine Übung. Wir wollen leben und erleben, wenn wir lesen.

Und das geht nur, wenn ein Erleben dahintersteht. Natürlich müssen wir nicht in der Pfanne gebrutzelt haben, um zu wissen, was ein Schnitzel ist. Wir müssen uns nicht im Boxring ins Jenseits boxen lassen, um übers Boxen zu schreiben. Hier irrte Herr Gallico. Sehen geht auch. Oder lesen natürlich. Oder sich ins Kino setzen. Aber klar: Erleben ist am lebendigsten. Zumindest selbst in Augenschein nehmen. Kerneindrücke überall, woʼs nur geht, sammeln und einsammeln. Ob im Goldbergwerk, in der U-Bahn, auf dem Gletscher, unter Wasser, in der Wüste. Alles wichtig, alles literaturverdächtig.

Ich zum Beispiel zehre seit fast einem halben Jahrhundert von meiner ersten Finnlandreise.

Wo gibtʼs Gegend ohne Ende, die mit dem Interrail-Ticket grade noch erreichbar ist? Über Europas Eisenbahnnetz diesseits der Warschauer-Pakt-Grenze kreisend, landete der Finger auf der Landkarte Kareliens. Ich zog mit zwei Kumpels los. Benzinkocher, knallgelbes Hundehüttenzelt, der Blechbecher meiner Großmutter. Wir liehen uns im tiefsten Finnland ein baufälliges Ruderboot, flickten es mit Draht und vier Holzschrauben und stachen in See. Wald, Felsen und immer neue, glasklare Seen. Ein Traum! Wir paddelten überglücklich über die ostfinnische Seenplatte und gaben jedem Eiland, das wir ansteuerten, stolz einen unserer Namen. Und waren der festen Überzeugung, immer weiter in die Wälder gen Norden zu fahren. Bis wir bemerkten, dass das vom Sonnenstand her beim besten Willen nicht hinkommen konnte. Der Nachtzug hatte auf der Hinreise mit uns eine 180° Kehre vollzogen, ohne dass wirʼs gemerkt hätten. Unsere Orientierung war völlig auf den Kopf gestellt, und wir ruderten statt hinein in die Taiga aus ihr heraus. Dem Genuss der Wildnis tat das nicht den geringsten Abbruch. Auch Südfinnlands Wälder und Seen wirken auf frisch gebackene Abiturienten wie Welten grenzenloser Freiheit.

Von den bei dieser Tour gesammelten Eindrücken – immer wieder bestärkt und bestätigt durch jede weitere Finnlandreise – habe ich Jahre und Jahre gezehrt, hab sie in zwei Hörspielen verwurstet und zuletzt in meinem »Krätze«-Krimi, den ich eben wegen dieser nicht verblassen wollenden Kerneindrücke genau dort hab spielen lassen. Und selbstredend flossen mir die Beschreibungen der Welt dort oben schneller aus der Feder, als ich drüber nachdenken konnte. Locker übersetzt aus dem Sommererlebnis seinerzeit in Wintererlebnisse.

Ohne die eingravierten Bilder, Einstellungen, Fantasien auf der tiefsten meiner Festplatten würde ich den Füller nicht in Fahrt bringen können. Eben weil, ja, stimmt, weil das Schreiben genau zwischen Traum und Wirklichkeit rangiert. Es ist, als wache man just auf: Man hat den Traum noch an der Leine, kann grad noch drauf zu(rück)greifen, aber die ersten (un)scharfen Gedanken sind schon unterwegs. Auf der wackligen Brücke ins Diesseits. Und genau dieser Schwebezustand, diese Zwitterkerneindrücke schreien danach, aufgeschrieben zu werden. Und rangieren, klar, auch beim Lesen zwischen Traum und Wirklichkeit. Literatur ist der inszenierte Tagtraum.

Deshalb kann ich nicht einschlafen, wenn auf meinem Nachttisch nicht Zettel und Bleistift bereitliegen.

Und die Frage Treatment – ja oder nein –, also dezidiertes Konzept vorher oder der geniale Wurf aus dem Nichts – die Frage ist wie so vieles im richtigen und im schreibenden Leben eine Frage der Dialektik. Ein Sowohl-als-Auch. Natürlich schreib ich für mein Leben gern einfach drauf los – insbesondere bei Gedichten, keine Ahnung, welchem Impuls ich da folge – und schau zu, wie die Tinte in welchen Mäandern aus dem Füller fließt. Lass einfach laufen, lass mich und meine Schreiberei treiben, setz mich mit Begeisterung auf die gespreizten Flügel des Pegasos und mindestens ebenso gern auf die der Wildgans wie weiland Nils Holgersson. Aber ich gebe zu, ich finde das, was dabei rauskommt, nicht immer genial. Nicht immer fangen die Buchstaben an, Tango zu tanzen. Und deshalb sind mir (nicht unbedingt ein ausgewachsenes Treatment, aber doch) Konzeptkritzeleien durchaus willkommene Krücken. Nachttischnotizzettel, Entwürfe auf Bierdeckelgröße oder auf meinem Lieblingspapier: DIN A5 kariert.

Und wenn dann die Geschichte so ihrer Wege geht, gibt es einen bestimmten unbestimmten Punkt, wo man sich das Ende überlegen, eine Art Zielführung, umʼs hochtrabend zu sagen, ins Visier nehmen muss. Sonst ufertʼs, weiß der Teufel wohin, aus. Worst Case: in die Beliebigkeit.

Alles Weitere muss dann dieses (eben dialektische) Hin und Her aus Schielen auf den Konzeptbierdeckel und munter flottierender Fantasie haben, aus Freischüssen und Konzentration, aus Spitzwinkel und Weitwinkel, aus einerseits und andererseits. Wenn das Schreiben nicht diese Selbstüberraschungen bietet und in stupides Ausbuchstabieren, Abarbeiten des Treatments ausartet, dann ist der »Zitsch« weg. Die Mühsal kommt sowieso, kommt später, wenn manʼs in welchen Rahmen auch immer einpassen muss. Aber erst das Spiel, dann die Arbeit. Und das Hin, das Her. Läuft.

Adrian ZSCHOKKE

Vielleicht habe ich einfach zu wenig Fantasie. Deshalb der Hunger nach Erlebnissen. Dabei habe ich natürlich gut lachen. Noch bin ich recht gesund und kann neue »Abenteuer« planen. Klar, die Berge, die ich erklimmen will, werden niedriger, die Flüsse, die ich überquere, ruhiger, aber ich lasse mich noch immer gerne von Steilhängen, von irgendwelchen Torturen verführen, bloß, um am Ende leicht enttäuscht über die Banalität meiner Leistung zu sein. Und dann setze ich mich an die Böschung und sehe eine Hummel auf der Blüte einer Margerite, auf der sie eigentlich unmöglich landen konnte. Denn bekanntlich kann die Hummel nach den Gesetzen der Aerodynamik gar nicht fliegen, bloß weiß sie das nicht.

Und so kann man/frau auch ohne Kerneindrücke schreiben.

Ich habe vor einer Buchhandlung ein querschnittgelähmtes Mädchen in einem Rollstuhl getroffen, die  mir ihren Krimi verkauft hat. Da gingʼs zu wie bei James Bond und, auch wenn ich jetzt etwas pathetisch werde, ihre Augen blitzen fröhlich und ich war sehr betreten.

Zur Mühsal bei der Abarbeitung der Füllerflüsse komme ich später. Erst aber zum Füller: Wie oft schon habe ich mir einen Füller gekauft, weil das zu meinem Bild des Schriftstellers gehört wie Whisky oder sonst ein alkoholisches Gebräu. Bei Letzterem bleibt bei mir nach kurzer Euphorie maximal eine Seite übrig, die ich nach dem Kater meist wegwerfe. Und beim Füller bleibt entweder eine – für meine Verhältnisse – sorgfältig kalligraphierte Seite ohne genügend Schärfe, ohne Präzision, weil es mir leidtut, ein schön hingeschriebenes, aber falsches Wort oder eine verschmierte Kritzelei, die ich nur mühsam entziffern kann, zu streichen. Jetzt besitze ich eine Sammlung von Füllern, die immer im falschen Moment ausgetrocknet sind. Mein Motto heute bei genialen Einfällen: Wenn ich sie nicht bis zum nächsten Computer behalten kann, so waren sie nicht genügend wichtig. Natürlich frage ich mich ab und zu: Wie viel wertvollste Gedankensplitter gingen so verloren? Aber auch dazu später.

Das Mobiltelefon als Notizgefäß hat zwar etwas von der Bierdeckelromantik zurückgebracht, mit der automatischen Korrektur gibt’s zudem manchmal schöne oder lustige Überraschungen, aber sonst: Ohne Computer würde ich nicht mal ein Nichts zustande bringen. Denn nur hier kann ich vorwärts, rückwärts löschen, einen Splitter kurz nach unten oder oben schieben und neben einen andern Satz stellen, bis er wie ein Puzzleteil schließlich am einzig richtigen Platz zu stehen kommt.

Zurück zur Mühsal. Mein erwähnter ineffizienter Überschreibungsprozess, das noch- und nochmaliges Korrigieren, geht irgendwann – und da beginnt die Endphase – von  zäher Mühsal in ein großes Vergnügen über. Wenn plötzlich der hinkende Rhythmus stimmt, weil ein überflüssiges »gar, je, und, aber, auch« etc. wegfällt. Wenn ich  merke: Ach so, ja, so ist gut. Oder wie der große Poet Trapp formulierte: »Ich habe fertig.«

Dazu mal wieder »Anekdoteles« (nicht von mir, leider): Einer meiner Krimis war in der Endphase. Ich gab ihn einer Freundin zu lesen mit dem Vorbehalt: »Wie ich die losen Enden verbinden will, ist mir noch nicht ganz klar«.  Sie gab mir den Text nach zwei Tagen zurück, begeistert zum Glück, und sagte: »Ist doch gut so, lass den Roman hier enden.«

Wir müssen mehr Zuversicht entwickeln. »Gottvertrauen« wage ich es nicht zu nennen, da platzt zu vielen der Kragen. Vielleicht Musenvertrauen? Jedenfalls: Wer geduldig bleibt und seinen aufgebauten Buchstabenturm immer neu zerstört, bis sich wichtige Gedankensplitter und Trümmer von selbst zur einer Komposition fügen, der braucht sich vor der Beliebigkeit nicht zu fürchten.

Dazu zwei Meister ihres Fachs:

Fellini hat mal ungefähr Folgendes erzählt: In einer Stofftapete suche er einen losen Faden. Den ziehe er vorsichtig heraus, bis er ein ganzes Knäuel habe. Mit diesem Knäuel spiele er so lange, bis es die Form angenommen habe, die ihm angebracht scheine. Dies sei dann seine Geschichte.

Und Michelangelo meint: »Die Figur war schon in dem rohen Stein. Ich musste nur noch alles Überflüssige wegschlagen.«

Alles etwas zu esoterisch? Arnold Schönberg meint: »Kunst kommt von müssen.«

Man mag Vorbehalte gegenüber Schönbergs Kunst haben, aber darum geht es nicht: Der Drang, etwas zu kreieren, ist schon die Kunst. Das gelungene Resultat ergibt sich aus der Zuversicht, die Musenküsse nicht zu verpassen, und der Beharrlichkeit, sie zu bearbeiten.

Damit übergebe ich nochmals an Giovanni Trappatoni: »Ich habe fertig!«

TREATMENT

Ulrich LAND

Die eigene Masche

Bin hängengeblieben bei diesem Bonmot: »Wer einen eigenen Stil kreiert, hat nichts zu erzählen.«

Ein Satz, eine Setzung, eine ärgerliche Irritation. Ein Hammer, ehrlich gesagt. Haut jedem vor den Kopp, der versucht, die eigene Masche zu stricken. Jedem, der sich nicht im Mainstream verströmen will.

Und doch merke ich, je mehr ich mich drüber aufrege, dass was dran sein könnte. Zumindest indirekt. Von hinten durch die Brust ins Auge gewissermaßen. Was, um der Wahrheit die Ehre zu geben, stimmt, ist, dass ich mich ab und zu dabei ertappe, mich sprachspielmäßig zu »verkünsteln«, weil mir der weitere Verlauf des Plots grad nicht einfallen will. Das war vor allem in meinen frühen Schreiberlingsjahren der Fall, wo ich seitenlange Storys verzapft habe, ohne dass irgendwas passiert wäre. Weil ich einfach nicht wusste, was hätte passieren sollen.

Irgendwann dann wusste ich, es muss was passieren!

Ich will, dass was passiert. In meinen Geschichten, in meinen Gedichten, in meinen Stücken. Und habe dann aber trotzdem sicher noch mal hundert Jahre gebraucht, um mich auf das Handwerkszeug der Drehbuchschreiber einzulassen. Da gibt es ja eine Art Zeichenbrett, man nennt es auch »Treatment«. Man könnte es auch »Handlungsablauf« nennen, wären da nicht noch die zusätzlich vorzuzeichnenden Profile von Personen und Schauplätzen. Egal. Jedenfalls eine »Vorab-Skizze«. Eine verdammt nützliche Einrichtung. (Außer bei Gedichten, da bleib ich dabei, guck zu, was mir aus dem Füller fließt.) Aber bei längeren Texten, wenn’s mir gelingt, mich zum Abfassen dieses Treatment ohne jedes Rumfabulieren zu disziplinieren, dann läuft es. Lernt die Handlung, die Erzählung das Laufen. Hat man plötzlich was zu erzählen. Hört sich zwar nicht nach grandios kreativer Schöpfung aus dem Nichts an, sondern nach zäher Arbeit, das Verfahren, nach gestrenger Linierung, ist es auch, aber plötzlich weiß man, wohin die Reise geht. Schon mal nicht schlecht. Und dann sieht man weiter.

– Aber – wo war ich noch mal losgelaufen?

Adrian ZSCHOKKE

Warum eigentlich lesen und schreiben?

Soweit ich zurückdenken kann, empfand ich die Realität immer als etwas zu flach oder zu flüchtig. Oder einfach eine -tät von vielen. Was ich las, was ich träumte, beschäftigte mich mehr, als ob ich nun klatschnass wurde, weil ich mal wieder die Jacke vergessen hatte.

Oft schien mir, ich würde nur wahrhaftig leiden, trauern, mich freuen, lieben können, wenn ich mein Erlebnis aufgeschrieben fand.

Doch ohne Wirklichkeit kann man auch nichts beschreiben. Paul Gallico, Journalist und Schriftsteller, hatte eine klare Meinung dazu: Für eine Reportage über einen Boxkampf trat er einst gegen Weltmeister Jack Dempsey an, um nach 97 Sekunden mit blutender Nase flach auf der Matte zu liegen. Obschon er schrieb, dass er diese Methode nicht zur Nachahmung empfehle, mir wurde er zum Vorbild.

Ich sammelte also Situationen, Kerneindrücke. Mit 17 etwa, beim Autostopp in Deutschland, mitten in der Nacht, es regnete, ich war klatschnass, ohne Geld, ohne Essen, da kaute ich grüne Weizenkörner, die ich von den Ähren riss. Das buchte ich ab unter »Entbehrung« und »Überleben«…

Dank meines Reporterberufes konnte ich später unterschiedlichste Erfahrungen sammeln, bei 50° in Iran etwa oder bei 28 Minusgraden in Weißrussland, auf 6000 müM in Chile oder in 1000 m unter der Erde in einer südafrikanischen Goldgrube. In Kriegen, in Luxusvillen und in Slums. Ich hoffe, wenigstens ein paar dieser Erlebnissein meine Bücher zu kondensieren, denn vor lauter Sammeln ging das Verarbeiten unter…

Dann las ich einen wunderbaren Roman von Flaubert: Bouvard et Pécuchet, und erfuhr, dass Flaubert in seinem Bestreben, alles realistisch zu beschreiben, nicht mehr zu Rande kam mit seinem Buch – der Roman erschien schließlich postum. Das erscheint mir bewunderns- und auch liebenswert, würde ich jedoch genauso wenig zur Nachahmung empfehlen wie Gallicos Rezept. Eine kurze Anekdote dazu: Bei einem Bericht über Winterreifen, beklagte sich unser Protagonist, ein Garagist, bei mir – ich verkörperte für ihn alle Aspekte der Fernsehproduktion – : »In einem Krimi war letzhin eine Verfolgungsjagd, Polizisten hinter einem Ford Mustang her. Und die haben einen 64er Mustang gezeigt, aber der Sound des Motors, das war ein 6-Zylinder, den gabs erst 65, das kann man doch nicht machen!«

Wer soll oder kann solche Finessen alle erfassen?

Strikte Regeln und Werkzeuge sind hilfreiche Krücken – für eine gewisse Zeit. Das gilt auch fürs Treatment, der aktuell heiligen Kuh in der Schriftstellerwerkstatt. Auch dazu eine Anekdote: An einem Drehbuchseminar mussten alle ihre Treatments vortragen. Meine Sitznachbarin präsentierte das ihre, perfekt, die ganze Handlung kurz, in indirekter Rede, wie es sein muss. Ich kritisierte im Brustton der Überzeugung, dass sie dieses Treatment sicher erst verfasst habe, nachdem sie ihr Buch schon geschrieben hatte. Denn für mich läuft es so: Wenn ich ein Projekt angehe, dann schreibe ich drauflos. Manchmal amüsiere ich mich dabei königlich, manchmal ist alles zäh und dröge. Am nächsten Tag wird korrigiert, gestrichen, fortgeschmissen, und so geht’s bis zum Ende, dann fang ich nochmals an. So lange, bis ich nichts mehr zu verbessern finde. Anfangs habe ich höchstens der Spur nach einen Plot, weiss selten, was meine Protagonisten alles anstellen und finde es erst dann richtig spannend, wenn sie sich querstellen. Vollkommen ineffizient, aber alles, was mich zur letzten Seite bringt, gilt, ist mein Credo. Wenn ich schon ein Treatment hätte, wo alles sauber konstruiert ist, dann wäre mir das Schreiben eine Strafaufgabe, weil bloß noch Lücken zu füllen sind.

Bei den meisten Reportagen treffe ich auf »alltägliche« Situationen und Menschen wie »du und ich«. Was mir dabei auffällt: Wenn wir etwas Zeit haben und ins Plaudern kommen, verrät mir die Bäuerin, der Spengler, die Physikerin und der Musiker, dass sie eigentlich lieber Maler, Pilotin, Filmemacher, was weiss ich, geworden wären. Jede und jeder lebt neben ihrem Alltag auch in ihren Träumen.

Für mich habe ich deshalb ein anderes Rezept gefunden: Ich recherchiere querbeet in Büchern, Filmen, in Zeitungen, im Internet, schreibe drauflos, überschreibe und streiche so lange, bis sich aus meinem Schreiben heraus ein Traum entwickelt.

Dann verschmilzt die Realität mit meiner andern -tät. Und dann bin ich auch sicher, dass ich meine Stimme gefunden habe – für genau das jeweilige Projekt.

VOM SICH-BEDIENEN

Adrian ZSCHOKKE

»Gute Künstler kopieren, große stehlen.«

Eines der Zitate, das allzu oft angebracht scheint und vielen zugeschrieben wird. Der Apple-Gründer Jobs zitierte es, angeblich stammt es von Picasso. Da es um »Sich-Bedienen« geht, ist es ohnehin egal.

In der beschriebenen Fräulein-Amman-Episode dachte ich nicht darüber nach. Jedes Wort, das ich neu entdeckte, gehörte mir. Unser Sprachvermögen stammt schließlich aus Kopieren, Imitieren, wie anders sollten wir uns sonst verständigen können.

Als ich bewusst darüber nachzudenken begann, verachtete ich jede Kopie. Alles sollte in meinem Kopf entstehen… und aus meinen Kenntnissen, die ich für schwer erarbeitet und unantastbar erachtete. Selbst Nachschlagewerke und Duden schienen mir unangebrachte Krücken für meine Kreativität.

Schrieb aber Geschichten, Notizen an die jeweilige Lektüre angelehnt. Wie schön war es mit den Romantikern zu schmachten, mit den Expressionisten die banale Realität zu überzeichnen. Das stelle ich allerdings erst heute fest. Damals hätte ich solche Einflüsse entrüstet zurückgewiesen.

Normale Belletristik, Krimis, gar Bestseller verachtete ich. Mir gefielen Experimente. Ein Buch zu schreiben, ohne ein einziges »E« zu verwenden, wie Georges Perec (er müsste ja konsequent Prc heißen  😉 ), oder Trümmerstil, oder die Etymtheorie Arno Schmidts waren mir Vorbilder. Letzter war ein grosser Zettelkastenkönig und ich sein Bewunderer. Meine Zettelkasten versagten dabei schon im Ansatz: Ich verlor die Zettel, verlegte die ganze Schachtel, kreierte so komplizierte Ordnungssysteme, dass ich am Ende nicht mehr wusste, nach welchem Kriterien ich eingeordnet hatte. So war ich heilfroh, als die Computerzeit kam. Nun rettete ich die kunterbunten Einträge von Floppyisks über den verschiedensten Harddisks bis heute. Wenn ich sie ab und zu durchforste, bin ich hell begeistert ab meinen großartigen Einfällen… im ersten Moment. So nach der dritten Sichtung fallen die meisten Krümel durch mein str(engeres) Sieb.

Das ist ein Krümel, zu dem mein finales Urteil noch nicht gefällt ist:

Es fragt die schöne Inderin, wo sind denn meine Rinder hin?

darauf der alte Inder: ich bin der stolze Finder,

halt mir den hübschen Hintern hin, dann findsts sie viel geschwinder.

            Die Rosie flüstert: So Sie,  Sie sind ja ganz ein Schlimmer!

Ich hatte keinen Schimmer, jetzt küssens meinen Po, Sie.

Ein Beispiel für die kreative Überholspur. Wer sich darauf begibt, läuft Gefahr, über den Rand hinaus zu fahren. Was ich am Montag perfekt finde, ist mir am Dienstag schal.

Allmählich, zögernd nähere ich mich dem heutigen Bonmot:  »Wer einen eigenen Stil kreiert, hat nichts zu erzählen.«  Ich glaube, es ist ein Zitat, habe aber den Autor nicht gefunden. Wer weiß, vielleicht stammt es von mir. Und greift wie alle Kurzformen auch etwas zu kurz. Denn die Suche nach der eigenen Stimme halte ich für unabdingbar, bloß das krampfhafte Bemühen um Originalität muss nicht sein. Momentan arbeite ich an Paraprosdokians. Erstens, weil mir das Wort so gefällt und zweitens, wenn die Wendung (zu Deutsch heißt Paraprosdokian Wendesatz) gelingt, finde ich es eine witzige Überraschung.

Ein Beispiel von Stephen King:

Ich habe das Herz eines kleinen Knaben – in einem Einmachglas auf meinem Schreibtisch.

Wenn ich ein paar gefunden habe, die mir gefallen, werde ich sie vielleicht mal auf die Leserschaft loslassen.

Heute lese ich querbeet alles, vorwiegend Krimis.  Mir scheint, Krimautorinnen sind eher gefeit vor allzu gespreizter Sprache, und wenn sie eine Stimme finden, erscheint sie – bei den Besten – authentisch.  Wenn mich en Thema interessiert, verschlinge ich alles und stoße ich dadurch auf unterschiedlichste Autoren.

So erlebte ich folgende Plagiatsgeschichte hautnah:

1997 fand ich einen Thriller über den Vatikan: The Vatican Boys. Verschwörung, Opus Dei, ein korrupter Papstanwärter etc. Es war grottenschlecht geschrieben, die Figuren platt, die Handlung schematisch. Der Autor hieß Jack Dunn. Aber das Thema faszinierte mich.

2003 las ich dasselbe Buch nochmals, jetzt hieß es Da Vinci Code und war von Dan Brown. Derselbe Plot, es war unübersehbar. Nicht ganz so schlecht geschrieben, die Charaktere zwar ebenfalls papieren, die Dialoge zum Davonrennen, aber die Handlung war nun professionell durchgestaltet, mit Cliffhängern und  mit Tempoveränderungen an den richtigen Stellen. Bekanntermaßen wurde es zum Megabestseller.

Es gab einen Plagiatsprozess, den Brown … natürlich gewann. Erst fand ich das skandalös, dann aber sagte ich mir und spreche wohl auch für  Jack Dunn: Beide Autoren wurden durch den Prozess nochmals in allen Zeitungen erwähnt und insbesondere für den Verlierer zahlte sich das in den Verkaufszahlen sicher aus.

Früher waren Plagiate allgegenwärtig. Bach schrieb von Vivaldi ab, Mozarts Werke wurden von x Komponisten transkribiert, einbezogen, umgearbeitet. In der Literatur ist Vergil ohne Homer undenkbar, unser Oberschriftsteller Goethe hat bei Marlowe abgeschaut, in der Malerei habe ich eingangs Picasso erwähnt. In den Zeiten des Internets sind die Quellen so unendlich reich, dass selbst der Frömmste nicht ohne Versuchung schreiben kann.

Wenn ich im Schreibfluss bin, entdecke ich jedes Mal ein Buch, einen Film, irgendwas, das  meine Geschichte vorwegnimmt. Ich meine, ich müsse alles wegwerfen, weil man mich sonst des Plagiats bezichtige. Wenn ich dann den vermeintlich selben Stoff einer Freundin zu lesen gebe, so stutzt sie und meint: »Und was soll das mit deiner Geschichte zu tun haben?«

Und so schließe ich: »Kunst ist Kopie, die spannender ist als das Original.«

Ulrich LAND

Tja, himmlische Formulierungsgeschenke wie »majestätisch« sich erhebende Berge oder ganze Plots von Abenteuersommergeschichten aus DeJong’scher Feder – darf man so was klauen? Als anständiger Schreiberling. Der sich bei aller frei flottierenden Fantasie doch ein Mindestmaß an Ehrlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat.

Klar, hatten wir als Kinder und Jugendliche nicht das geringste Unrechtsbewusstsein. Und, ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht, ob mir das reichlich fünfzig Jahre später noch Magengrimmen verursachen sollte. Ich glaube, Meindert de Jong, sollte er zu Lebzeiten je von meiner Piraterie erfahren haben (wobei ich nicht davon ausgehe, dass die gute Frau Rademacher sich bemüßigt fühlte, ihn in Kenntnis zu setzen), wird allenfalls gegriemelt haben. Vielleicht wäre er sogar stolz gewesen. Immerhin hat ein Knirps sein Buch für wert befunden, die Story aus der Nacherzählfeder ins Hausaufgabenheft fließen zu lassen.

Keine Frage, Plagiatsvorwürfe haben die unangenehme Eigenschaft, einen – zumal in digitalen Zeiten – durchaus Jahrzehnte später noch einzuholen (vgl. Karl-Theodor zu Guttenberg, Franziska Giffey, um nur zwei prominente Beispiele anzuführen). Aber wird diese »Schummelsoftware« unter der Hand und der Feder des Literaten nicht geadelt? Da sie in andere Kontexte gerückt wird und zwischen den Zeilen ausufernden Fabulierens ein fantastisch weitergeführtes Wesen treibt. Möglicherweise sollte man, um unsern Berufsstand aus der Schusslinie zu nehmen, weniger von »Formulierungen klauen« als von »aufklauben« reden.

An langen Sonntagnachmittagen seinerzeit im Vorwende-Berlin, als ich bereits mit dem Gedanken spielte, mich nun wirklich und tatsächlich auf den steinigen Pfad der Schriftstellerei zu begeben, begann ich, mir aus dem Füllhorn des Feuilletons der Frankfurter Rundschau die raffiniertesten Formulierungen rauszupicken. Und notierte sie auf (ganz analogen) Karteikarten. Die beiden Karteikästen stehen immer noch hier drüben im Regal. Der erste davon immerhin randvoll. Ich glaube, ich hab seit den späten 80er Jahren, also seit ich tatsächlich anfing, mit der Schreiberei meine Brötchen zu verdienen, nie wieder einen Blick in diesen Hort des geklauten Formulierungsschatzes getan. Aber jetzt – Moment, ich guck mal grad rein. Greife wahllos zu. Uups, ich wusste gar nicht mehr, dass ich da auch eigenes Zeug rumgesponnen und aufgeschrieben hab. Schwierig, jetzt noch zu rekonstruieren, was auf fremdem, und was auf meinem eigenen Mist gewachsen ist. Letztlich schnuppe.

Nehmen wir beispielsweise die Rubrik »Abrechnung mit Gottvater«.

Kärtchen 1: »Gestern fiel ich vom Glauben ab. Einfach so. Mitten auf der Straße. Schade eigentlich. Schade, schade.«

Kärtchen 2: »Kichererbssünde«

Oder unter der Rubrik »Es rappelt in der Beziehungskiste«.

Kärtchen 18: »Nach einer enttäuschten Liebe den Ring zurück an die Frau mit der Bemerkung ›Mit schönem Gruß an deinen nächsten Versuch!‹«

Keine Ahnung, von wem diese Idee stammt, aber könnte doch vielleicht ein zu beherzigender Vorschlag zur Güte sein. Und jetzt wollt ihr garantiert wissen, was auf den 17 Kärtchen davor steht. Andermal.

Vielleicht jedenfalls sollte ich die guten alten Karteikästen hin und wieder doch noch mal zu Rate ziehen. Und sollte ich tatsächlich jemals was daraus verwenden und nicht ersichtlich sein, dass es ursprünglichst nicht aus meiner Feder stammt, so verzeihe mir der Erfinder der begnadeten Formulierung den, sagen wir: Fremdeinsatz. Immerhin ein späte Ehre der Wiedererscheinung.

DIE INITIALZÜNDUNG(EN)

Ulrich LAND

Was sind sie eigentlich »Initialzündungen«? Und wie entstehen sie überhaupt?

Bei mir reichen die ersten Gehversuche mit dem Fantasiefüller bis in die Grundschulzeit (damals noch »Volksschulzeit«) zurück. Mein schönstes Ferienerlebnis gehörte auf Geheiß der guten Frau Rademacher aufgeschrieben. Mein Problem nur: Ich hatte keines. Oder ich erinnerte mich an keines. Die Ferien waren grottenlangweilig. Nichts, aber auch gar nichts, was ich für wert befunden hätte, mit literarischem Feinschliff festgehalten zu werden. Also behalf ich mich mit dem Bücherregal und irgendeinem Kinderbuch von Meindert DeJong. Spielte in Holland. Und waren wir nicht auch in Holland gewesen?
Da mir Abschreiben zu mühselig erschien, machte ich mich ans Nacherzählen. Oder etwas vornehmer: Nachempfinden.

Anderthalb Wochen nach dem Abgabetermin eröffnete die Rademachersche meiner Mutter ihre Verblüffung darüber, was wir, gute Güte, so alles im Urlaub erlebt hätten!
Worauf die Verblüffung auf Seiten meiner Mutter Einzug hielt. Ganz im Gegenteil, und man wisse doch, wenn einem langweilig sei, fange die Erholung an.
Na, dann habe der Sohnemann aber eine blühende Fantasie. Und was für eine Note solle sie ihm nun für die erstunkenerlogene Geschichte verpassen?

Der zweite Gehversuch fand zehn Jahre später statt. Ich war Ende 17 und zum ersten Mal verknallt. Bis über beide Ohren. Und um die Holde zu überzeugen, und da wir in der Oberprima grade Great American Shortstories durchnahmen, überreichte ich ihr in aller Feierlichkeit eine selbst geschriebene Geschichte. Diese handelte, weiß ich noch wie heute, von dem Phänomen, dass man, so man weit genug rausfährt, vom Boot aus ringsum nur Wasser und kein Fitzchen Land mehr zu sehen bekommt. Was allerdings auf der Handlungsebene passierte – keine Ahnung mehr, ich fürchte nicht allzu viel. Denn erst weitere zehn Jahre später kam ich auf den Trichter, dass in Geschichten was zu passieren habe und dass es vielleicht klug sein könnte, sich nicht nur in herz- und weltschmerztriefenden Beschreibungen zu ergehen.
Leider, sehr leider ist die Geschichte verschollen. Und die Holde leider, sehr leider auch.

Kann es also sein, dass das Hauptmotiv des (öffentlichen) Schreibens nichts als die Selbstliebe ist? Um nicht zu sagen: die Selbstverliebtheit. Jedenfalls die Vermessenheit, davon auszugehen, dass man der Welt was zu sagen hat. Und dass die Welt – verdammt noch mal – zuzuhören hat.

Adrian ZSCHOKKE

Da steige ich gerne zu, in diese Bahn der Erinnerungen!
Zum Ersten: Auch »Fräulein« Amman, unsere Lehrerin in der 4. Klasse, wollte unser schönstes Ferienerlebnis erfahren. Mein Satz: »Während wir über die Autobahn fuhren, erhoben sich neben uns die Berge ›majestätisch‹«. Majestätisch – einWort, das ich kurz vorher in einer Broschüre gelesen hatte und sofort anwenden wollte – reichte für die Bestnote und schickte mich auf eine ungute Suche nach ähnlichen Klischees.

Zum Zweiten: Unser Fünftklasslehrer Dambach gab einen andern Anstoß: In einem gemeinsamen Aufsatz sollten wir die Vorbeifahrt des Schnellzuges schildern. Er bestand darauf, dass eine genaue Beobachtung das Wichtigste für eine lebendige Beschreibung sei: Was ist das Erste, das den Zug ankündet? Unsere Vorschläge »Dumpfes Grollen, Kreischen, Vögel, die auffliegen« wurden entgegengenommen, aber erst seine eigene Beobachtung, dass nämlich zuerst die Fahrleitung zu schwingen begänne, führte uns vor Augen, was wahre Schriftstellerei ist. (Dass ich später herausfand, dass dem nicht so ist, tat Dambachs Lektion keinen Abstrich, im Gegenteil: Wer so eine Erfindung als authentische Beobachtung präsentieren kann, darf weiterschreiben.)

Zum Dritten: Im Gymnasium wechselte ich in einer Nacherzählung, eine Pflichtübung, die ich zum Gähnen fand, vom Präteritum ins Präsens. Grammatikalisch nicht richtig, aber, wie ich mich verteidigte, der Spannung dienlich. Lehrer Thomke beschied mir: »Wenn Sie dreimal eine Sechs schreiben, dann dürfen Sie sich solche stilistische Freiheiten herausnehmen, vorher nicht!«

Diesen drei Lektionen folgend, versuche ich noch immer, meine Stimme zu finden, Klischees nicht auf den Leim zu kriechen, sie aber auch nicht zu verachten, denn sie sind oft wirksam. Und Beobachtungen ernst zu nehmen, aber nicht der eigenen Fantasie unterzuordnen und, wenn ich mir sicher bin, auch mal über den »Dudenrand« hinwegzusehen. Dass diese Stimme etwas zu sagen hat, davon bin ich überzeugt, auch wenn ein ganz leises Stimmchen dagegenhält und piepst: »Wieso denn  ausgerechnet du?« Wenn dieses Stimmchen dereinst überhandnimmt, dann höre ich auf.